Haibun. Reise nach Saarbrücken

Karel Trinkewitz

24. Februar 1985
Lüneburg

9.15 [Uhr]
Schon lange weiß ich, dass ich ein psychosomatischer Typ bin, der stark den biologischen Rhythmen unterliegt, manisch-depressiv ist, heftig auf meteorologische Schwankungen reagiert, abhängig von den Gesetzmäßigkeiten innerer und äußerer Rhythmen. Änderungen dieser Rhythmen treffen mich meist unverhofft. Das ist wie mit meinem Schlaf-Wach-Rhythmus. Mal schlafe ich wie auf Befehl in wenigen Minuten ein, mal wälze ich mich stundenlang im Bett und warte auf den Schlaf.

So wie auch in den letzten Tagen. Es gelingt mir nicht einzuschlafen. Meist stört mich das nicht – wenn ich nicht schlafen kann, dann lese ich. Und schlafe ein, wenn die Müdigkeit mich dazu zwingt.

Oder ich liege mit geschlossenen Augen da und erinnere mich an die Vergangenheit oder denke über meine Buchprojekte und Bilder nach.

Aber in dieser Nacht hätte ich gern geschlafen. Morgens um 8 Uhr sollte ein Taxi kommen und mich zum Bahnhof Dammtor bringen, von wo aus ich nach Saarbrücken fahren wollte.

Ich reise nicht gern (wahrscheinlich auch deshalb, weil es meinen alltäglichen Rhythmus durcheinander bringt), aber diese Reise muss sein: Die Moderne Galerie möchte, dass ich die ungefähr dreißig Objekte und Bilder abhole, die ich dort ausgestellt habe. Das ist sicherer, als sie mit der Post zu schicken; bestimmt würden sie wieder beschädigt ankommen. Und das wäre diesmal besonders ärgerlich, da ein amerikanischer Sammler schon eines der Bilder gekauft hat, der Chirurg Marvin Sackner aus Miami, und mir liegt daran, dass er das Bild so schnell wie möglich bekommt – und zwar unbeschädigt. Zum einen, weil er es bereits bezahlt hat, zum anderen, weil er mir anbot, das Manuskript meines Romans über Prag zu kaufen. Und ich will mit ihm nicht eher über Geld sprechen (von dem ich den Roman drucken lassen will), bis er sein Bild erhalten hat.

Also habe ich alles für die Reise vorbereitet und wollte gegen Mitternacht ins Bett gehen. Es gelang mir aber einfach nicht einzuschlafen. Lange habe ich es versucht, dabei verschiedenste Erinnerungen heraufbeschworen oder versucht, den Rhythmus meines Atems zu verlangsamen, wie es manche Fachleute empfehlen. Aber nichts half.

Eine Weile las ich in einem Roman von Emilio Gadda über Rom, aber nicht einmal das half. Ich schaltete den Fernseher ein und schaute mir einen amerikanischen Film an. Als er um halb drei zu Ende war, konnte ich immer noch nicht einschlafen. Da wusste ich schon, dass das eine dieser Nächte ist, in der ich überhaupt nicht einschlafen würde. Ich beschloss also, nur in der Dunkelheit zu liegen und mich dem hinzugeben, was Literaturwissenschaftler den „stream of consciousness“ nennen. Und ich sagte mir, dass ich darüber schreiben werde. So könnte vielleicht ein Text entstehen, den ich „Reise nach Saarbrücken“ nenne.

Ich schaltete Placeholder...

Da wusste Placeholder...

[…]

11 Uhr. Während ich schrieb, kamen wir in Göttingen an. Auch dieser Name ruft bei mir die Erinnerung an meine Jugend hervor. Das erste Mal stieß ich auf ihn, als ich bei Shakespeare las, wie sich Hamlet und Horatio an ihre Studentenjahre an den deutschen Universitäten erinnern.

Ich war damals Lehrling in einer Keramikfabrik und durfte nicht studieren: Ich war kein tschechoslowakischer Staatsbürger. Und doch sehnte ich mich nach diesen entfernten Orten der Wissenschaft, über die ich in der Geschichte der Hussiten gelesen hatte, deren Priester an den Universitäten in Göttingen, Tübingen und Heidelberg studiert hatten. Ich fand diese Namen in den Lebensläufen von Tycho de Brahe, Keppler, Paracelsius.

Später, sehr viel später, da war ich schon eine „Unperson“ und ein Chartist, wechselte ich schließlich einige Briefe mit Walter Jens, Professor für Rhetorik in Tübingen. Selbst damals dachte ich noch darüber nach, in Deutschland zu studieren. Es ging nicht.

Und noch heute, wenn ich durch das Zugfenster die Straßen von Göttingen vorbeiziehen sehe, fühle ich eine gewisse Bitterkeit bei dem Gedanken, dass ich schon zu alt dafür bin, um in den Bänken dieser altertümlichen Gemäuer zu sitzen.

Ist das nicht ein Grund für eine Bilanzdepression?

Mittlerweile passiert der Zug eine Kleinstadt, die unmittelbar an der unheilverkündenden Mauer der DDR-Grenze liegt. Als ich das letzte Mal hier vorbeifuhr, habe ich über diese Grenze ein deutsches Haiku geschrieben:

Der Herbst. Die Krähen
krächzen
Im Nebel stehend:
Die Zonengrenze

In Saarbrücken lernte ich dann Professor Kamimura kennen, der einige meiner Haikus ins Japanische übersetzte.
Das über die Grenze klingt so:

Karasu naki
shūmu ni kasumu
Kunizakai

Das erinnert mich daran, dass ich diesen Bericht über meine Reise nach Saarbrücken Haibun genannt habe, aber bislang noch kein einziges Haiku schrieb.

Obschon ich eins verfasst habe, als ich das Haus verließ und aufs Taxi wartete:

Bis das Taxi kommt,
dichte ich.
Der Rabe krächzt
erfrischend, frühlingshaft

Ein weiteres schrieb ich, als wir am Hafen vorbeifuhren. Er war in Nebel gehüllt, nur die Konstruktionen der Kräne ragten wie eine Schar Giraffen heraus:

Im Hafen starren
in den Nebel
die Krangiraffen
stehen wie gelähmt

Das Haibun erlaubt es dem Autor, auch ein fremdes Haiku oder eigene Verse zu zitieren, die er bereits früher schrieb. Das hier habe ich heute geschrieben:

Wasserglanz schimmert
in Fenstern
Sehnsucht der Bahnhofshallen
an feuchtem Frühlingstag

[…]
20.10 [Uhr]
Ich habe angerufen. Jan [Koblasa] ist nicht zu Hause, aber Laura erzählte, dass sie vor zwei Tagen aus Carrara zurückgekommen sind, mit vielen neuen Skulpturen – und beide erkältet – sie arbeiteten die ganze Zeit über draußen im Pleinair.

Und mir fiel ein, dass ich einen Text über Jan angefangen habe. Ich sollte ihn beenden und das schlechte Gewissens loswerden, das mich jedes Mal befällt, wenn ich auf den Stapel Bücher und Notizen blicke, die ich mir bereitgelegt habe und aus denen bisher die ersten Kapitel (6) entstanden sind.

Vielleicht sollte ich weniger lange Tagebucheinträge schreiben und mich mehr der wichtigen Arbeit widmen.

Vor kurzem las ich einen Artikel über Arthur Schnitzler. Angeblich sagte er, seine Tagebücher seien sein wichtigstes Werk. Der Autor des Artikels behauptet jedoch, die Tagebücher Schnitzlers seien nur Aufzeichnungen banaler Begebenheiten, viele sogar unverständlich. Literaturgeschichtlich wohl unbedeutend.

Doch vielleicht hat Schnitzler Literatur anders gesehen. Vielleicht dachte er, das Leben, wie es so banal von Tag zu Tag verläuft, sei bedeutender als die literarische Fiktion.

Was im Übrigen auch ich denke. Und was dazu führt, dass ich die Fiktion ablehne und meine Texte Collagen aus Dokumenten realer Begebenheiten sind.

Das sage ich auch demjenigen, der vielleicht irgendwann einmal meine Tagebücher liest.

Howgh!

Übersetzt von Rainette Lange
Im Original: Cesta do Saarbrücken. Archiv Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Nachlass Trinkewitz. FSO 2-060.