Poesie des Augenblicks und der Ewigkeit
Karel Trinkewitz
Ende 1959 erholte ich mich von einer schweren Krankheit. Im Halbdunkel der Prager Dämmerung lag ich im Bett und verfolgte im Radio die Sendung „Poesie am Abend“. Begleitet von leiser Musik las ein Sprecher Gedichte vor, die aus nur wenigen Worten bestanden, aber eine derartige innere Intensität hatten, dass ich den Text, an dem ich schrieb, beiseite legte und bis zum Ende der fünfminütigen Sendung diese kleinen Dreizeiler mitschrieb. Aus der kurzen Einführung wusste ich nur so viel, dass sie Haiku hießen, siebzehn Silben hatten und ursprünglich aus Japan kamen.
Erst später fand ich heraus, dass sie aus dem Buch des Dichters Matsuo Bashō stammten, das der Dichter Jan Vladislav übersetzt hat. Doch bis dahin hatte ich als Vorlage nur jene wenigen vor dem Radio mitgeschriebenen Haikus, und nach denen rekonstruierte ich mir ihre Regeln. Ich versuchte, eigene Haikus zu schreiben. Im Frühjahr des folgenden Jahres besuchte ich den Dichter Kamil Bednář in seinem Wohnwagen in Chloumek bei Mělník, und während wir uns über Poesie unterhielten, erwähnte ich auch meine Versuche mit den japanischen Dreizeilern. Ich hatte Glück, Kamil Bednář wusste nicht nur, was ein Haiku ist, sondern überließ mir später zurück in Prag aus seiner Bibliothek ein Duplikat einer Anthologie mit Haiku-Dichtern, die Alfons Breska im Jahr 1937 übersetzt hatte. So gelangte ich in den Besitz eines der fünfhundert Exemplare dieser Ausgabe. Breskas Anthologie lehrte mich die Regeln des Haiku und machte mich mit den Versen der berühmtesten Haiku-Meister bekannt. Meine weiteren Versuche waren oberflächlich besehen zumindest formal richtig. Eine weitere Lektion entnahm ich Jan Vladislavs Übersetzungen von Bashōs Haikus.
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[Das Haiku] hatte noch immer die Form eines Gesellschaftsspiels mit vielen komplizierten Regeln. Erst sein großer Meister, der Zen-Mönch Bashō, gab ihm die Gestalt eines literarischen Kleinods, machte es zu einem Medium tiefgründigen Nachdenkens über den Sinn des Lebens, so wie es der Lebensweise eines Zen-Denkers entspricht. In dessen Tradition ist das Haiku die Momentbeschreibung eines Naturereignisses, hinter dem sich eine Reflexion über die Vergänglichkeit des Lebens und den persönlichen Standpunkt des Autors im Sinne der Philosophie von Zen und Tao verbirgt.
Formal unterliegt das Haiku einer ganzen Reihe von Regeln. Eine der wichtigsten ist, dass jeder Dreizeiler sich auf eine Jahreszeit beziehen muss (*ki*) – und zwar hervorgerufen durch ein Wort, an dem diese zu erkennen sein muss: es ist das sog. Jahreszeitenwort (*kigo*). Die siebzehn Silben müssen nicht immer streng eingehalten werden; die Japaner kennen die sog. leeren Wörter oder Silben (*kireji*), am ehesten vergleichbar mit unseren Empfindungswörtern. Viele Haiku-Dichter arbeiten mit festen Symbolen, traditionellen Ausdrücken und auch mit Reminiszenzen an Gedichte älterer Meister (bspw. in Form von Zitaten aus ihren Haikus). Charakteristisch für das Haiku ist, dass es scheinbar einfach aussieht, dabei aber gründet seine literarische Raffinesse in einer unglaublich langen Tradition (und der Ästhetik des Zen). Hinter der scheinbar einfachen Impression verbirgt sich ein kompliziertes Gewebe literarischer, historischer und philosophischer Konnotationen. Oder mit den Worten der Informationstheorie: Jedes Wort eines Haiku ist ein kodiertes Zeichen einer langen Reihe rekursiver Operationen, deren Umfang, Tiefe und Intensität nicht nur durch die Software der Nachricht selbst bedingt sind, sondern auch durch den Umfang der Hardware – die Persönlichkeit des Empfängers, des Lesers.
Ähnlich kompliziert ist auch die materielle Struktur des Haiku, sein sprachlicher Hintergrund, der Klang der japanischen Vokale und Konsonanten, ihr Rhythmus, die psychologische Einfärbung. Für einen westlichen Haiku-Autor, der sich so nah wie möglich der Form des japanischen Dreizeilers annähern möchte, stellt diese Seite des Haiku ein schwieriges Problem dar. Einer der größten Kenner der japanischen Dichtkunst, Thomas Hoover, sagt dazu, auf die Analyse von Kenneth Rexroth, einem weiteren Haiku-Kenner, bezugnehmend: „Eine solchen Klang ohne Reime zu schaffen, ist schwerer, als es auf den ersten Blick aussehen mag, und das Bemühen darum führt zwangsläufig zu den poetischen Mitteln von Assonanz (Wiederholung von Vokalen) und Alliteration (Wiederholung gleichartiger Konsonanten).“ Doch der Gebrauch der von den Japanern psychologisierend eingesetzten Töne führt uns natürlich auch zu einem Verfahren unserer literarischen Technik – der Onomatopoesie, der Lautmalerei.
Mit solchen Überlegungen befasste ich mich während meines eigenen Schaffens. Viele Übersetzer und Autoren haben mich inspiriert. Von unseren Dichtern war es Jan Vladislav, der mich auf die Idee der Reime brachte – er verwendete sie bei der Übersetzung von Bashōs Versen, in denen er einige Zeilen reimte. Lange habe ich experimentiert und am Ende war es der Zufall, der mich zur Form zweier doppelter Reime brachte, die mithilfe eines inneren Reims in der zweiten, siebensilbigen Zeile gebildet werden. Das war am 28. Oktober 1965 auf einem Spaziergang auf dem Goethepfad in *Franzensbad*. Ich stand dort auf der Anhöhe, wo der alte Dichter seine geologischen Beobachtungen gemacht hatte, und sah, wie der Wind die Blätter über die Dächer des Kurstädtchens wehte:
Blätter auf Vogel-
Wegen
wehmütiger Regen benetzt
die Kleinstadtmauern…
Es hat allerdings noch zehn Jahre gedauert, bis mein erstes Haiku nach diesem Muster entstand, das ich für veröffentlichungsreif hielt.
Es war jedoch nicht die jahrelange Erfahrung im Umgang mit den sprachlichen Mitteln, die mir die Sicherheit gab, sondern das intensive Studium der Zen-Philosophie wie der Lehre des Tao. Ich erkannte, nicht die handwerkliche Sicherheit macht den Meister (wie beispielsweise bei der Kalligraphie, dem Bogenschießen oder Fechten), sondern die innere Freiheit: und das ist die Freiheit von sich selbst (im Unterschied zur westlichen Idee der Subjektivität, dem Kult des Individuums). Eine Demut, die aus dem Schöpfer nur ein Medium macht, durch das die Wirklichkeit selbst spricht – Tao, Zen (oder wenn man so will, Sokrates’ Daimonion). Ein kleines bisschen begann ich zu ahnen, was der Begriff Satori bedeutet: das Gefühl der Einheit mit der Natur und dem Gefühl, dass sie durch mich spricht. Inzwischen schränken mich keine Regeln mehr ein, demütig habe ich sie erlernt und wiederhole sie täglich, wie eine Meditationsübung. Ich denke jedoch nicht an sie, wenn ich schreibe.
Und noch einmal halte ich es für notwendig, meinem Leser zu sagen: Ein Haiku zu schreiben hat nichts Exotisches oder Kurioses. Schon seit Beginn dieses Jahrhunderts interessieren sich europäische und amerikanische Schriftsteller für das Haiku. […]
Nicht zuletzt sollen auch die interdisziplinären Beziehungen des Haiku zu anderen Bereichen der Kultur und Kunst erwähnt werden. Eng verbunden mit der japanischen Kalligraphie und ihren aus der chinesischen Kultur übernommenen Zeichen ist die Affinität des Haiku zur Tuschemalerei. Viele Haiku-Dichter waren gleichzeitig Maler – die Haiku-Kunst ist daher auch der europäischen visuellen Poesie nahe. Die Technik, im Haiku Bilder zu verbinden, hat ebenfalls Parallelen in der westlichen Kunst. Es war hauptsächlich Sergej Eisenstein, der darauf hingewiesen hat, dass das Haiku mit der Technik der Bildmontage arbeitet. Das bestätigte ebenso Ezra Pound, der im Haiku viele Ähnlichkeiten zur Kunst der Imaginisten sah.
Die Beziehung der Zen-Philosophie zum Humor und zum Geist des Paradoxons oder des Absurden findet auch in der modernen Kunst sowie im Haiku seine Entsprechung. Die japanische Vorliebe für das Spiel mit Synonymen und Wortspiele ist einigen Versen der Dadaisten oder auch der tschechischen Poetisten nicht fremd. Und hier möchte ich anmerken, dass meine Haikus nicht möglich wären ohne die Poesie [Víteszlav] Nezvals, ohne die Naturlyrik vieler tschechischer Dichter – ohne die Verse von [Josef] Hora, [Antonín] Sova und [Karel] Toman. Mein Dank gilt der tschechischen Sprache, die für mich vor allen anderen eine Sprache der Poesie ist. Deswegen schreibe ich meine Haikus auch hier, weit weg von Böhmen, unterwegs in der Welt – in Paris, Berlin, Hamburg, in den Alpen und auf den Inseln der Nordsee. Weit entfernt von der Landschaft meiner Kindheit, kehre ich zu ihr und ihrer Sprache zurück. Denn
Mir blieb nur die Sprache
hinter den Grenzen des Verstands (*zaumný jazyk*)
Mit der ich hineingehe
in die Kindheit hinter der Scheune
Karel Trinkewitz
Hamburg, 7. Januar 1986
Übersetzt von Rainette Lange
Im Original: Poezie okamžiku a věčnosti. Archiv Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Nachlass Trinkewitz. FSO 2-060.