Haijin Trinkewitz?
Karel Trinkewitz und das Haiku
Birgit Krehl
Karel Trinkewitz veröffentlichte einige hundert Haikus, geschrieben hat er tausende: anfangs drei-, später vierzeilig. Er schrieb sie in Majuskeln und Minuskeln, auf Tschechisch und auf Deutsch, mit farbigen und mit schwarzen Filzstiften. Er schrieb sie in unlinierte gebundene Hefte, die es als Dutzendware in tschechischen Papiergeschäften gab, und auf längliche Papierstreifen, für die er selbst Einbände fertigte.
Die japanische Poesie der Kurzgedichte faszinierte im 20. Jahrhundert viele europäische und amerikanische Dichter, darunter Rainer Maria Rilke, Paul Claudel, Ezra Pound, Octavio Paz und Allen Ginsberg. Sie alle verfassten auch Haikus oder haikuähnliche Verse. Karel Trinkewitz hingegen ist ein wirklicher Haiku-Dichter, ein Haijin: Er schrieb fast ausschließlich Haikus, gleichwohl Roland Barthes’ Beschreibung auf ihn nicht recht passt: „Der Haiku-Dichter, der Mann des Haiku: ein unvollkommener, laxer, vielleicht listiger Buddhist: gekreuzt mit Tao.“[1] Barthes hatte wohl den japanischen Meister Matsuo Bashō im Auge. Mit diesem teilte Trinkewitz zumindest die Erfahrung, schon dann zufrieden sein zu können, wenn nur wenige von den tausenden in einem Menschleben gedichteten Haikus blieben,[2] denn für beide, Bashō und Trinkewitz, war Haiku-Poesie nicht nur eine lyrische, sondern vor allem eine Lebensform.
Zur Form des Haiku
Während einer fünfminütigen Radiosendung Ende des Jahres 1959 hörte Karel Trinkewitz erstmals von japanischen Dreizeilern und begann, begeistert von der „kürzeste[n] aller lyrischen Formen“,[3] selbst welche zu schreiben. Den Regeln der Haiku-Dichtung kam er zunächst in tschechischen Übersetzungen japanischer Haikus durch Alfons Breska und Jan Vladislav auf die Spur, erkannte, dass „nicht handwerkliche Sicherheit den Meister [macht]“, und vertiefte sich in das Studium von Zen-Philosophie und Tao-Lehre. Über Jahre mit der Form experimentierend wurde ihm das Haiku-Schreiben schließlich zur täglichen meditationsähnlichen Beschäftigung.[4]
In seinem noch nicht vollständig gesichteten Nachlass[5] befinden sich knapp 50 Haiku-Bände, zumeist dickere Hardcover-Hefte mit einem häufig collageartig gestalteten Frontcover und selbst gebundene Bände. Für deren Umschläge verwendete Trinkewitz mit Buchstaben gestaltete Drucke, wie er sie auch in seinem bildkünstlerischen Schaffen vielfältig nutzte. (Abb. 1-2)
Abb. 1-2
Cover Haiku-Band
Archiv Forschungsstelle Osteuropa Bremen. Nachlass Trinkewitz.
FSO 2–060.
Die oft mehrere 100 Haikus fassenden Hefte und Bände setzen 1972 ein und enden mit dem Bändchen Haiku 23 im Sommer oder Frühherbst 2012. Aus den sešity oder Heften, die Karel Trinkewitz ab 2004 im böhmischen Rabí fast täglich mit Haikus füllte, wählte er 136 Haikus für seine letzte Publikation Tristium Rabí (2009) aus. Die Anfänge seiner Haiku-Dichtung reichen jedoch in das Jahr 1960 zurück, wie die Datierungen eines kleinen Bändchens und eines fast quadratischen „Heftes“ belegen,[6] die beide den Titel Sommer-Haikus (Letní haiku) tragen. (Abb. 3-4)
Abb. 3-4
„Sommer-Haikus“
Archiv Forschungsstelle Osteuropa Bremen. Nachlass Trinkewitz.
FSO 2–060.
Die in ihrer graphischen Gestaltung von Cover und Schrift unterschiedlichen Sammlungen von 1960 sind inhaltlich fast identisch: Die 41 Haikus des quadratischen Heftes sind in dem Miniaturband mit 63 Haikus vollständig enthalten. Welches der beiden Bändchen das „Original“ ist und welches eine Abschrift darstellt, lässt sich schwer entscheiden. Dies trifft auch für spätere Haiku-Sammlungen von Trinkewitz zu. Aus den 1970er Jahren gibt es mehrere Hefte mit dem Titel Arbeitsversion (Pracovní verze), daneben zwei Bände, die eine Auswahl der besten Haikus aus den Jahren 1972–1979 (Výbor z nejlepších Haiku z let 1972–1979) präsentieren. Ähnlich verhält es sich bei den Haikus über Prag: Zwei Bändchen aus den 1970er Jahren befinden sich im Nachlass des Künstlers. 1984 publizierte Trinkewitz im Londoner Exilverlag Rozmluvy 100 tschechische Haikus über Prag (Haiku o Praze). Genau zehn Jahre später erschien der zweisprachige Band Praha v sedmnácti slabikách. Prag in siebzehn Silben mit 95 tschechischen und 94 deutschen Haikus. Diese beiden gedruckten Ausgaben unterscheiden sich zwar in der Form, weisen aber eine gewisse Schnittmenge bei den tschechischen Haikus auf. Einige Prag-Haikus verschenkte Karel Trinkewitz, von politischer Verfolgung und Ausbürgerung bedroht, in den 1970er Jahren als Samizdat-Unikate an Freunde. Wie viele Haikus der tschechisch-deutsche Künstler in Prag, im Hamburger Exil und dann im südwestböhmischen Rabí dichtete, lässt sich nicht genau sagen. Er selbst schätzte 2004 ihre Zahl auf 12.000, doch folgten bis zu seinem Tod noch mindestens 3.000 weitere.
Die beiden Bändchen von 1960 belegen hingegen, dass die ersten von Karel Trinkewitz zu Papier gebrachten Haikus dreizeilig und ungereimt waren und die „klassische“ Silbenzahl siebzehn in der Aufteilung 5-7-5 aufwiesen (Abb. 5):
Abb. 5
Haiku Nr. 1
Archiv Forschungsstelle Osteuropa Bremen. Nachlass Trinkewitz.
FSO 2–060.
Slyšíš hlas léta?
Kukuřičným polem jde
Modravý vítr
Hörst du den Sommerton?
Durch die Maisfelder geht
ein bläulicher Wind
(Übers. Rainette Lange)
Nur wenige Jahre später bricht Trinkewitz allerdings mit dem Diktat des Dreizeilers und der Reimlosigkeit. Den mittleren Vers in unterschiedliche Kombinationen zerlegend, verteilt er die siebzehn Silben nun auf vier Zeilen, so dass sich als Muster der Silbenverteilung in seinen Haikus folgende Varianten ergeben: 5-4-3-5, 5-3-4-5, 5-2-5-5 oder 5‑5‑2‑5. Obschon sich ab den 1980er Jahren eine Dominanz der Variante 5‑2‑5‑5 abzeichnet – in Tristium Rabí folgen knapp die Hälfte der Haikus diesem Schema – bleiben auch die anderen Muster durchgängig präsent. Zum Reim kommt Trinkewitz 1965, als er, angeregt durch gereimte Haiku-Übersetzungen von Jan Vladislav, während eines Spaziergangs in Franzensbad zwei Verse seiner vierzeiligen Haikus durch einen Reim verbindet. Ab Mitte der 1970er Jahre werden dann häufig alle Verse kreuzartig in die Reimstruktur einbezogen. Es entfaltet sich ein Zusammenspiel von Assonanzen, unreinen oder auch Doppel- und über Wortgrenzen hinausreichenden Reimen, weniger Gleichklang als ähnlichen Klang erzeugend.
V chvilku teplou jdu
na sad
k hrušni bez plodů,
do dětství nazad [7]
Derartige Abweichungen von der klassischen Haiku-Form sind in der westlichen Adaption der japanischen Gedichtform nicht ungewöhnlich. Sie widersprechen auch, wie der folgende Exkurs zeigen will, weniger stark dem Charakter des japanischen Vorbildes als es zunächst erscheinen mag.
Es besteht weitgehend Konsens darüber, dass es sich beim Haiku um einen ungereimten siebzehnsilbigen Dreizeiler mit der Silbenverteilung 5-7-5 handelt. Allerdings weist der Haiku-Übersetzer Dietrich Krusche darauf hin, dass ein Haiku allein aus drei Wortgruppen mit der Verteilung der Silben 5-7-5 bestehe, in japanischen Druckausgaben die Worte einzeilig untereinander geschrieben werden und auch in einer kalligraphischen Wiedergabe eine Wortgruppierung nach Silbenzählung keine Rolle spiele.[8] Eine „reine Erfindung des Westens“ nennt der Literatur- und Kulturwissenschaftler Arata Takeda den Dreizeiler, „denn das japanische Haiku bestehe aus einer einzigen, fortlaufenden, vertikalen Zeile“, die Zäsuren zwischen den drei Wortgruppen seien visuell nicht wahrnehmbar.[9] Lediglich aus „Platzgründen“ könne ein Haiku auch mehrzeilig geschrieben sein, doch müsse auch in diesem Fall der Zeilenumbruch nicht unbedingt mit der Wortgruppenzäsur übereinstimmen. Auf die Haikus von Karel Trinkewitz bezugnehmend bedeutet dies, dass die strukturinterne Gliederung des Haiku in drei Wortgruppen selbst im Japanischen nicht zwingend in drei Zeilen wiedergegeben werden muss. Im Gegenteil wird bei Trinkewitz mit der Verteilung der drei Wortgruppen auf vier Zeilen zumindest partiell an die „Lesearbeit des Haiku“, zu der „das Erkennen solcher Zäsuren essentiell“[10] gehört, angeknüpft.
Die Reimlosigkeit im japanischen Haiku gründet in phonologischen Gegebenheiten des Japanischen, in der Offenheit aller mit einem Vokal endenden Silben. Ebenso wenig wie den Reim kennt das Japanische einen Wechsel kurzer und langer oder betonter und unbetonter Silben. Nichtsdestotrotz unterliegt das japanische Haiku mit seinem „Wortfluss“ euphonisch-rhythmischen Gestaltungsprinzipen, die der tschechische Japanologe und Übersetzer Miroslav (Mirko) Novák bereits 1962 in einer Studie über die Haikus von Bashō beschrieb.[11] Die Wiederholung bestimmter lautlicher Einheiten – mitunter über Wortgrenzen hinweg – führen beim japanischen Haiku zu einem „reimartigen“ Charakter. Erwähnenswert ist diese Studie aber nicht nur wegen der detaillierten Untersuchung lautlicher Eigenschaften des Haiku und deren Bezug zu rhythmischen Abgrenzungen, sondern auch, weil Trinkewitz Novák und dessen Arbeiten kannte. Möglicherweise war er durch ihn mit den Regeln der lautlichen und rhythmischen Organisation japanischer Haikus vertraut, deren Wiedergabe in den meist reimlosen westlichen Nachdichtungen für Novák keinesfalls adäquat war.
Trinkewitz wählte mit den gereimten, laut- und silbenspielerisch agierenden Versen mithin einen Weg, seinen Haikus eine dem japanischen Kurzgedicht ähnliche Klangfülle zu geben, ohne jedoch ein „wohlgefälliges“ Fließen der Silben und Laute, wie Novák es in den Haikus Bashōs beschreibt, zu evozieren. Im Gegenteil – bei Trinkewitz zerfallen die Wörter: In Silben und Laute „zerhackt“, unterlaufen sie die Qualität des „In-sich-Geschlossene[n], am Ohr Vorübergehende[n]“[12] der Reime. Vielmehr verfangen sie sich im Ohr, öffnen den Text über die Wörter hinaus, unterbinden Sinnstiftung und werden im Durchkreuzen des Deutungsdrangs[13] zu Haikus – denen der japanischen Meister unähnlich ähnlich.
Den traditionell siebzehn Silben eines Haiku folgt Karel Trinkewitz ausnahmslos, wenngleich siebzehn Silben in einer europäischen Sprache mitnichten in ihrem „Aussagepotential“ von siebzehn Silben im Japanischen entsprechen. Der Unterschied basiert auf der phonetischen Prägung der japanischen Sprache als Silbenalphabet, aus dem eine geringere Zahl an Kombinationsmöglichkeiten der Silben im Vergleich zu Buchstaben resultiert. Die Folge sind zahlreiche Homophone, mit denen das Haiku zum einen spielt, andererseits aber ihren inflationären Gleichklang bewirkenden Gebrauch zu vermeiden sucht, indem Wörter mit höherer Silbenzahl – den Möglichkeiten des japanischen Sprachsystems folgend – gebildet werden.[14] Sowohl die wesentlich längeren „originalgetreuen“ Übersetzungen von Durs Grünbeins Haikus durch Yûji Nawata ins Japanische[15] als auch umgekehrt die mitunter nur zehn Silben umfassenden Übersetzungen japanischer Haikus durch Krusche ins Deutsche bestätigen diese Verschiebung. Dem minimalistischen Anspruch von Einfachheit, Klarheit und Spontanität scheinen die siebzehn Silben in der europäischen und amerikanischen Haiku-Dichtung dennoch nicht zu widersprechen.
Der Differenz der eigenen Haikus zur japanischen Ur-Form war sich Trinkewitz von Anfang an bewusst. Er bezeichnet sie in dem kleinen Essay zum Haiku aus den 1970er Jahren als „Versuch einer tschechischen Paraphrase des Haiku“. Nicht die originale Gedichtform selbst, vielmehr eine in der tschechischen (zum Teil auch deutschen) Sprache und europäischen Kultur verortete Adaption wird zu seiner künstlerischen Ausdrucksform alltäglichen Lebens.
Haijin Trinkewitz
Karel Trinkewitz war ein Bewunderer des japanischen Haiku-Meisters Bashō, belesen in Zen-Buddhismus und Taoismus, ahnte, was Satori sein könnte. Dennoch war er weder Buddhist noch Taoist, sondern Atheist. Er suchte seinen Weg und fand ihn als Haiku-Dichter, als Haiku-Mensch: „[E]r dichtet sein Leben und lebt sein Dichten.“[16]
Ein Lyriker war Trinkewitz nicht. Er schrieb eine überschaubare Anzahl Aphorismen und beschrieb seine Begegnungen mit Dichtern (Wie ich Dichtern begegnete) in Versen. Er wandte sich auch genuin autobiographischen Genres wie dem Tagebuch zu oder versuchte, mit dem Experiment „Metaroman“ die Grenze zwischen Fiktion und Leben aufzuheben. Zur bevorzugten Form des Autobiographischen wurde ihm indessen die Haiku-Dichtung: Ein Paradoxon insofern, als Barthes gerade beim Haiku die „Idee der Urheberschaft erschüttert“ sieht: „Das Haiku ist das Subjekt selbst, eine Quintessenz von Subjektivität, aber nicht unbedingt der des ,Autors‘.“[17] Trinkewitz hätte Barthes gewiss nicht widersprochen, verortete er die Kunst des Haiku doch selbst in einer „innere[n] Freiheit“, die „im Unterschied zur westlichen Idee der Subjektivität, dem Kult des Individuums“, eine „Freiheit von sich selbst [ist]“.[18] Eine Freiheit, die dem „Leben, wie es banal von Tag zu Tag verläuft“[19], im Haiku Raum gibt und es durch ein dichtes Netz historischer, kultureller und philosophischer Bezüge beschwert.
Ingredienzien seiner Haiku-Poesie sind „reale Inspiration“, „Liebe zur Natur“,[20] Ironie (einschließlich deren Ernst), (Sprach-)Humor, Jahreszeitenworte, Ortsangaben, Personennamen (realer und fiktionaler Art) und Zitate. Sie ist mit einem beträchtlichen Referenzpotential ausgestattet, das dem Haiku Konkretheit gibt und es dennoch zugleich einem sinnstiftenden Realitätsbezug entzieht.
Für das japanische Haiku sind weder konkrete Orts- noch Personennamen oder Zitate charakteristisch. Das Jahreszeitenwort (kigo), eine Jahreszeit eindeutig benennend (Frühlingsbeginn) oder metonymisch bezeichnend (verfärbende Blätter = Mitte des Herbstes), gehört hingegen aufgrund der Bedeutung, die der Jahreszeit in der japanischen Kultur zukommt,[21] zum Repertoire klassischer Haikus. Japanische Haiku-Sammlungen folgen der Jahreszeitenfolge von Frühling, Sommer, Herbst und Winter. In westlichen Haikus wird häufig auf ein kigo verzichtet, nicht so bei Trinkewitz, der erstaunlich konsequent an dieser Haiku-Regel festhält. Selbst in den Sammlungen seiner Prag-Haikus, in denen der Lauf der Jahreszeiten nicht so deutlich hervortritt wie in Lob des Haiku oder Tristium Rabí,[22] blinkt das Licht „durch Frühlingswolken“, geht jarní déšť (Frühlingsregen) nieder, später „fällt Herbst auf mich / auf der Kampa“ und schließlich liegt dort Schnee.[23]
Das Jahreszeitenwort stiftet – eine emotionale Wirkung entfaltend – Atmosphäre und evoziert zugleich eine Jahreszeit im Sinne eines „Realitätseffekts“, einer Realitätsgewissheit.[24] Diesen Effekt verstärken die Haikus von Trinkewitz durch die bereits erwähnten Namens- und Ortsbenennungen sowie unmarkierten Zitatfetzen – von populären Schlagertexten bis Goethe. In der Sammlung Lob des Haiku werden beispielsweise die Haiku-Dichter Kobayashi Issa und Bashō namentlich aufgerufen, aber auch Neil Armstrong, Johann Sebastian Bach, Albert Camus, Johann Wolfgang von Goethe, Immanuel Kant, Karel Hynek Mácha, Ovid, Johann Gottfried Seume, Walt Whitman, dazu die Toponyme Tschernobyl, Prag, Elbe, Hamburg. Mit dieser Verdichtung des „Realitätseffekts“ folgen die Haikus von Trinkewitz nicht den japanischen Vorbildern, vielmehr lässt sie den (post)modernen Dichter einer „Zweiten Avantgarde“ spürbar werden, denn das Wirkliche wird als Fragmentarisches, Zerlegtes, Bruchstückhaftes bedeutet. Direkter kann der Verweis auf die Existenz, auf das Leben eines tschechisch-deutsch-jüdischen Intellektuellen in der zweiten Hälfte des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaum ausfallen. Die „Realitätseffekte“ rekurrieren somit auch auf „Wirkliches“ im Sinne des Autobiographischen, des authentisch Verbürgten.
Entstanden sind seine Haikus nicht am Schreibtisch oder auf einer Schreibmaschine. Hefte und kleine Kärtchen waren ständige Begleiter, mit ihnen durchstreifte Trinkewitz Prag, begab sich auf Spaziergänge entlang der Alster oder zur Burg Rabí, schrieb gehend und ging schreibend. In der schreibenden Bewegung beruhigte sich der Geist und sein gehetztes, von äußerer und innerer Unruhe getriebenes Leben flüchtete sich im Moment des Innehaltens in Haiku-Poesie.
In der sprachlichen Form des Haikus, in deren bindender Kürze erheischt die „zerhackte“ Existenz einen Augenblick flüchtiger Stabilität, jedoch scheint das Brüchige im Zerbröseln der Wörter in Silben und im Benennen auf. Aus dieser Spannung speist sich offensichtlich die Obsession des täglichen Haiku-Schreibens bei Trinkewitz ebenso wie der ironische Humor, die verstörende Komik und Selbstreflexivität seiner Haikus.
Keineswegs zufällig hebt Trinkewitz den Bezug der Zen-Philosophie „zum Humor und zum Geist des Paradoxen und des Absurden“ hervor, für die ihm nur eine „Sprache hinter dem Verstand“ (zaumny jazyk), wie es in einem Haiku seines Essays Poesie des Augenblicks und der Ewigkeit heißt, tauglich scheint. Der Begriff zaumny jazyk ist zugleich eine Anspielung an die poetischen Experimente russischer Futuristen, unter denen ihm insbesondere Velimir Chlebnikov vertraut war. Mit wortspielerischer Leichtigkeit – im Sinne von Paronomasie und Anagramm –, mit Allusionen und Zitaten löst Trinkewitz seine Haikus von vergeistigter sprachlicher Elaboriertheit und verhindert ihr Abgleiten in „Betroffenheitslyrik“ ebenso wie in bloße Zeitkritik. In einer symbolbefreiten, komplizierte Metaphorik meidenden und nicht nach Perfektion strebenden Sprache bahnt sich das banale Leben mit „gelben Strapsen“ den Weg in seine Haikus, aber auch in Anspielung auf die spätmoderne Lyrik eines František Halas und dessen den Tod verscheuchenden Hahn (Abb. 6 und 7):[25]
Abb. 6
„Smrt kohout plaši …“
Karel Trinkewitz: „Lob des Haiku/Chvála haiku“ (Praha 2004, S. 63)
Smrt kohout plaší
V ránu letním
Slov kaši
žnu v lánu retním[26]
Hahn den Tod vertreibt
in der Sommerfrüh’
Wörterbrei
ich im Lippenfeld mäh’
(Übers. Rainette Lange)
Abb. 7
„Wonach Raps sich sehnt …“
Karel Trinkewitz: „Lob des Haiku/Chvála haiku“ (Praha 2004, S. 127)
Dieser humorige Einbruch in die Poesie des Haiku mag befremden, doch dem traditionellen japanischen Haiku ist er nicht völlig fremd. Obschon in den Texten Bashōs eine ernsthaftere Ausrichtung auf eine im Zen-Buddhismus wurzelnde Naturlyrik gesehen wird, schließt dies keineswegs die in der Haiku-Poesie anderer Dichter stärker betonte Bindung an Humor aus. Der japanische Dichter Yûji Nawata spricht sogar vom Humor „als Ursprung und Kern des Haikus“[28]. Zu diesem kehrt Karel Trinkewitz auf eigenwillige Weise zurück.
Text, Bild und Schrift
Die Faszination durch das Haiku gründet bei Trinkewitz nicht zuletzt in dessen ursprünglicher Kombination von Text, Schrift und Bild: in den „fließenden Übergängen“ von Sprach- und Bildzeichen und der weniger scharfen Abgrenzung voneinander.[29] Dafür sprechen zum einen seine Collage in Hundertdreißig Haiku und zum anderen seine publizierten Haiku-Bände.[30] Hier bietet er seinen Lesern keine „Fragmente“ an. Als solche bezeichnet Nawata Haikus, die ursprünglich, etwa auf einem Fächer, mit einem Bild gekoppelt waren, diesem Kontext entrissen wurden und in Text-Anthologien erscheinen.
Bei Trinkewitz durchläuft das Haiku eine umgekehrte Bewegung – vom Fragment des bloßen Textes zum Gesamtkunstwerk visueller Poesie. Die vier publizierten Haiku-Bände sind keine Kurzgedicht-Sammlungen, sondern text-, schrift- und bildkünstlerische Interaktionen. In dem jeweils spezifischen Zusammenspiel werden sie zu „Unikaten“: In den beiden Bänden mit den Prag-Haikus sind die Texte mit Zeichnungen kombiniert, die Trinkewitz in den 1970er Jahren und – bereits von der Ausbürgerung bedroht – in fieberhafter Eile 1979 von „seiner Stadt“ anfertigte. Sie ähneln japanischen Tuschezeichnungen und sind doch um ein Vielfaches „monumentaler“. Die Verbindung zwischen den einzelnen Texten und Zeichnungen ist keine fest gefügte. Ein tschechisches Haiku beispielsweise, das in beiden Bänden vorkommt, wird jeweils mit einer anderen Zeichnung kombiniert, obgleich die entsprechende Zeichnung aus Haikus über Prag auch in dem Band Prag in siebzehn Silben enthalten, dort aber einem anderen Haiku zugeordnet ist. Die Veränderungen könnten zum einen daraus resultieren, dass der tschechisch-deutsche Band je ein tschechisches und ein deutsches Haiku (das keine Übersetzung ist) mit einer Zeichnung verknüpft, oder sie sind dem umfangreichen Repertoire ähnlicher Zeichnungen, aus dem Trinkewitz schöpfen konnte, geschuldet. Obwohl die Verknüpfung also lose scheint, verweist das Interagieren von Text und Zeichnung auf Referentielles, ohne eine Bedeutungsbewegung ins Symbolische oder Hermetische anzustoßen (Abb. 8):
Abb. 8
„Prags Stille in den Ohren …“
Karel Trinkewitz: Prag in siebzehn Silben/Praha v sedmnácti slabikách. (Baden-Baden 1994, S. 188-189)
Durch die Zeichnung wird das Rad im Text als Mühlenrad auf der Kampa dekodiert. Das Eisige der Stille Prags im Verbund mit einem erzwungenen Stillstand evoziert im Kontext des Jahreszeitlichen etwas Temporäres, das im Zusammenspiel von Haiku und Zeichnung verstärkt wird – mit dem Rad einer alten Prager Mühle, das schon viele frostige Zeiten sah. Mit der Zeichnung kommt darüber hinaus das „alte Prag“ ins Spiel, das mit dem Bezug zum Text in den eisigen Winden bedroht ist. Das Interagieren mit dem Bild dekodiert somit keineswegs nur den Text, sondern kodiert diesen auch. Ähnliches lässt sich auch über die dritte Haiku-Komponente bei Karel Trinkewitz sagen – über die Schrift.
Augenfällig unterscheiden sich die beiden Publikationen mit Prag-Haikus in der typographischen Gestaltung respektive in der Schrift: Wohl in Anlehnung an seine in Majuskeln geschriebenen unveröffentlichten Haikus publizierte Karel Trinkewitz seine Haiku-Gedichte in Haikus über Prag in Hohlbuchstaben. (Abb. 9)
Abb. 9
„Certovka vyschlá …“
Karel Trinkewitz: Haiku o Praze. (Londýn 1984, [o.S.])
Das Handschriftliche, markiert durch abweichende Buchstabenformen und leicht tanzende Schrift, indiziert Körpersprache, Sprache jenseits des Geschriebenen. Die Handschrift ist „Selbstschreibung“, aber nicht Selbstbeschreibung, sie ist im Autographischen – den „Urheber“ geradezu bezeugend – und nicht im Autobiographischen zu verorten.[31] Naheliegend ist bei dieser Verbindung von Hohlschrift und Haiku eine kalligraphische Reminiszenz. Allerdings erinnert die Schrift in dem Band kaum an eine „Kunst des Schönschreibens“, doch mindert sie die den Haiku-Texten eigene Dichte. Obgleich der Text genauso viel Platz – etwa ein Drittel der schmalen Seite – wie die Zeichnung einnimmt, kreiert er in der Hohlschrift und der reduzierten Interpunktion eine „Luftigkeit der graphischen Erscheinung“, die Roland Barthes „zum Wesen des Haiku“ zählt.[32] Verstärkt wird dieser Aspekt zweifellos über graphische Drucke, die Tuschezeichnungen ähneln.
In dem späteren Band mit Prag-Haikus werden hingegen gedruckte Lettern verwendet. Die tschechischen und deutschen Haikus sind hier waagerecht nebeneinander oder senkrecht untereinander auf eine große, fast quadratische Seite gesetzt, während die Zeichnung auf der jeweils gegenüberliegenden Buchseite platziert ist. Das Haiku als „ein kleiner, luftiger Textbrocken, ein kleiner Schriftblock, wie ein rechteckiges Ideogramm“,[33] bewahrt auch hier seinen graphischen Reiz, der sich zudem in einer seit den 1970er Jahren konsequent betriebenen Rechtsbündigkeit der Verszeilen (auch in allen handschriftlichen Texten) als Allusion der von rechts nach links in Spalten geschriebenen japanischen Schrift entfaltet.
Anders – und damit den Unikat-Charakter der Sammlungen prägend – präsentieren sich Bild, Schrift und Text in dem Bändchen Lob des Haiku, der vielleicht „leichtesten“ Haiku-Sammlung von Trinkewitz. In ihrer Gegenständlichkeit und Flächigkeit erinnern die mit den Texten comicartig verknüpften Zeichnungen nur noch partiell an die Kunst der japanischen Tuschezeichnungen. Sie interagieren mit den Texten an der Grenze von Dekodierung und Illustration. Auffällig hingegen ist die Schrift – geschriebene Druckschrift, die partiell bereits in Schreibschrift übergeht und sichtbar in Größe und Neigung der Buchstaben variiert. Sie markiert im Handschriftlichen ein hohes Maß an Emotionalität; nicht Sinn, jedoch Spannung erzeugend. (Abb. 8)
Die letzte publizierte Sammlung Tristium Rabí ist unmittelbar nach der Ausstellung von Collagen, Assemblagen und Objektkunst des Künstlers im westböhmischen Plzeň entstanden. In dem kleinformatigen Band werden jeweils zwei Haikus in Lettern mit der Photographie eines seiner Kunstobjekte auf eine Doppelseite gedruckt. Ästhetische Intensität entfaltet dieses Arrangement wesentlich in der Potenzierung des Fragmentarischen, das den Charakter des Gesamtkunstwerks sichtbar in der Verwandlung des Dreidimensionalen der Objekte in Zweidimensionales der Photographie unterläuft – und das hier exemplarisch für die Kunst von Karel Trinkwitz steht: Entfaltung des Künstlerischen in der Reduktion, die das Brüchige, Unvollkommene, Segmentierte evident werden lässt. (Abb. 10)
Abb. 10
„Mráz v louzích hnízdí …“
Karel Trinkewitz: Tristium Rabí. (Plzeń 2009, S. 156-157)
Abschließend sei ein Phänomen der Haiku-Kunst von Trinkewitz erwähnt, das lange Zeit einer Erklärung harrte: der konsequente Gebrauch von Filzstiften. Nur die ersten Haikus schrieb Trinkewitz mit Tinte. Schnell, noch in den 1960er Jahren, trat an ihre Stelle das neue Schreibgerät Filzstift, dessen Verbreitung in Japan 1962 ihren Anfang nahm und dort den Pinsel ablöste. Der Prager Künstler muss schon bald auf ihn aufmerksam geworden sein. Er setze ihn zunächst in verschiedenen Farben, später vorwiegend in schwarzer Ausführung ein und schrieb und zeichnete so den Spuren japanischer Kalligraphie folgend: „Kunst [hat] ihren Ursprung in der Schrift und nicht im Ausdruck.“[34]
Abgedruckt im Begleitband zur Ausstellung „Die unerträgliche Leichtigkeit des Haiku“, hrsg. von Christine Gölz, Alfrun Kliems und Birgit Krehl. Verlag Janos Stekovics: Wettin-Löbejün OT Dößel 2016, S. 46-61.
[1] Barthes, Roland: Die Vorbereitung des Romans. Frankfurt am Main 2008, S. 125.
[2] Krusche, Dietrich: Essay: Erläuterungen zu einer fremden literarischen Gattung. In: Haiku. Japanische Gedichte. Hg. von Dietrich Krusche. München 1994, S. 120.
[3] Ebd., S. 115.
[4] Trinkewitz, Karel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Haiku (1990). Vgl. im Band Seiten ###.
[5] Diese Aussagen gründen auf der Materialsichtung des Nachlasses im Archiv der Forschungsstelle Osteuropa Bremen. Ein Teil des Nachlasses ist noch ungesichtet im privaten Besitz der Witwe, Helga Umland-Trinkewitz.
[6] Beide Bände befinden sich im Archiv der Forschungsstelle Osteuropa Bremen.
[7] Trinkewitz, Karel: Lob des Haiku. Chvála Haiku. Praha 2004, S. 31.
[8] Krusche: Essay, S. 115.
[9] Takeda, Arata: Überschwang durch Überschuss. Probleme beim Übersetzen einer Form – am Beispiel des Haiku. In: arcadia 42/1 (2007), S. 40.
[10] Ebd.
[11] Novák, Miroslav: Euphonie im Haiku. Ein Beitrag zur Poetik des japanischen Kurzgedichts. In: Bulletin of the International Institute for Linguistic Science 6 (1962), S. 3-40.
[12] Ebd., S. 36.
[13] Diesen Aspekt verdanke ich der Anregung von Prof. Dr. Alfrun Kliems (Berlin).
[14] Schädlich, Hans Joachim: Das Haiku in der japanischen und in der deutschen Sprache. In: Krusche: Essay, S. 118.
[15] Nawata, Yûji: „Ins Wasser gehauene Kieselsteine.“ Über Durs Grünbeins Haiku. In: Von deutscher Dichtkunst. Eine Sammlung von Betrachtungen zu zeitgenössischen deutschsprachigen Gedichten. Hg. von Isolde Schiffermüller und Klaus Staemmler. Halle 2009, S. 143.
[16] Barthes, Roland: Vorbereitung des Romans, S. 126.
[17] Barthes: Vorbereitung des Romans, S. 125.
[18] Ebd.
[19] Trinkewitz: Die unerträgliche Leichtigkeit des Haiku, Seiten ###.
[20] Krusche: Essay, S. 118.
[21] Takeda: Überschwang, S. 33.
[22] Z.B. in den Haiku über Prag, in denen es bereits „schneit“, wenn noch „Raps sich gelb“ sehnt. Vgl. Trinkewitz: Lob des Haiku, S. 64; 125.
[23] Trinkewitz: Prag in siebzehn Silben, S. 60; 111.
[24] Barthes: Vorbereitung des Romans, S. 140; Takeda: Überschwang, S. 38.
[25] Vgl. Trinkewitz: Lob des Haiku, S. 62; 123.
[26] Trinkewitz: Lob des Haiku, S. 125.
[27] Der Begriff kigo wird zumeist mit „Jahreszeitenwort“ übersetzt. Eine präzisere Wiedergabe bietet „Jahreszeitenbegriff“. Vgl. Takeda: Überschwang, S. 37.
[28] Nawata, Yûji: Haiku-Kunst und Haiku-Praxis. In: „In dieser kalten Zeit der Nacht. Als haiku Dichter zu Gast in München und Berlin.“ Mit Texten von Yûji Nawata. Hg. von Hayato Ohashi und Joachim Gierlich. Regensburg 2012, S. 30.
[29] Barthes: Vorbereitung des Romans, S. 142.
[30] Trinkewitz, Karel: Hundertdreißig Haiku. Sto třicet haiku. Praha 2004, S. 4–5.
[31] Diesen Aspekt verdanke ich der Anregung von Prof. Dr. Alfrun Kliems (Berlin).
[32] Barthes: Vorbereitung des Romans, S. 142.
[33] Barthes: Vorbereitung des Romans, S. 143.
[34] Barthes: Vorbereitung des Romans, S. 135.