Der Haiku hat jene etwas trügerische Eigenschaft,
dass man stets meint, leicht selbst einige schreiben zu können.
Roland Barthes, Im Reich der Zeichen[1]
Als ich vor einiger Zeit in den Vereinigten Staaten war, erzählte mir ein Professor vom Hamilton College, dass man in den New Yorker Schulen bereits in den ersten Klassen lernen würde, Haikus zu schreiben. Ich wusste, ähnlich ist es in Japan, wo Dutzende Zeitschriften existieren, die ganz dem Haiku gewidmet sind; in Deutschland, wo ich lebe, gibt es eine Gesellschaft zur Pflege dieser poetischen Form, dennoch war ich angenehm überrascht zu hören, dass sich am Wettbewerb um das beste Haiku scharenweise amerikanische Hausfrauen beteiligen.
Ist es wirklich so einfach, ein Haiku zu schreiben? Und was sind die Gründe dafür, dass das Haiku seine Autoren und Leser so leicht in den Bann zieht?
Ich erinnere mich noch, wie ich selbst sofort seinem Zauber erlag. Zu Beginn der 1960er [Ende der 1950er, Anm.d.R.] Jahre hörte ich die Radiosendung Poesie am Sonntagabend – und schon nach wenigen Haikus begann ich, die gehörten Verse mitzuschreiben. Aus den einführenden Worten wusste ich nur, dass ein Haiku siebzehn Silben hat. Meine wenigen notierten Verse hatte ich als Vorlage. Und ich hatte, wie Roland Barthes einmal meinte, das Gefühl, es wäre „doch ganz leicht“ ein Haiku zu schreiben (um Ivan Vyskočil zu paraphrasieren). Dann begann ich – und schrieb seitdem an die 7.000 Haikus.
Mit der Zeit bemerkte ich jedoch, dass diese Leichtigkeit trügerisch war (nochmals siehe Barthes). Und zwar in dem Moment, als sich in meiner Bibliothek die Literatur über das Haiku sowie zahlreiche Übersetzungen ins Deutsche, Französische und Englische zu häufen begannen – und als ich, Kamil Bednář sei dank, die ersten Übersetzungen ins Tschechische von Alfons Breska entdeckte.[2]
Kenner der chinesischen und japanischen Philosophie klärten mich über die Ursprünge der taoistischen Kunstauffassung auf, zeigten mir, wie der Zen, die japanische Richtung des Taoismus, künstlerische Formen wie die Tuschemalerei, das Ikebana, das Theater No – und vor allem die Poesie das Haiku beeinflusste.
Dem tschechischen Leser ist die japanische Poesie am ehesten aus den Übersetzungen von Bohumil Mathesius bekannt, der Verse in „Tanka“-Form nachdichtete.[3] Die Übersetzungen von Breska sind nicht mehr erhältlich: Sie erschienen in einer Auflage von 500 Exemplaren. Beachtenswert war die Übersetzung von Jan Vladislav, der Haiku von Matsuo Bashō, dem Begründer und Traditionsstifter dieser Form und ihrem größtem Meister, übertrug.[4] Ich selbst veröffentlichte bis 1969 Haikus in Zeitschriften. Ab 1970 war ich, genau wie Jan Vladislav, ein verbotener Autor. Ich befürchte, seitdem hat der tschechische Leser nicht mehr viel über das Haiku erfahren. Gern würde ich daher das Interesse am Haiku wenigstens mit einem kurzen Beitrag wiederbeleben. Mag sein, dass bei uns mit der Zeit nicht nur mehr Haikus gelesen, sondern auch geschrieben werden. Das scheint mir sogar einer der Pfade zu sein, auf dem wir uns der Weltliteratur annähern (und zu ihr zurückkehren) können.
Das Haiku entwickelte sich aus der ältesten japanischen Versform, dem Tanka, das bereits in den ältesten japanischen literarischen Überlieferungen, dem Kojiki (Aufzeichnung alter Geschehnisse) aus dem Jahr 712, und dem Man’yōshū (Sammlung der zehntausend Blätter) ungefähr aus dem Jahr 760, zu finden ist. Welche Bedeutung die Japaner der Poesie zuschrieben, verdeutlicht die Tatsache, dass die Kaiser ein eigenes Amt zur Pflege der Poesie unterhielten und der kaiserliche Hof einmal im Jahr einen öffentlichen Wettbewerb um das beste Tanka-Gedicht ausrichtete. Bis heute haben sich tatsächlich Millionen dieser Gedichte erhalten. Die Sammlung, die unter Kaiser Meiji (1868–1912) entstanden ist, umfasst etwa 100.000 Gedichte.
Die japanische Kultur schöpfte damals fast ausschließlich aus chinesischen Quellen. Das Chinesische war Grundlage jeglicher Bildung. Fast die gesamte Literatur wurde auf Chinesisch verfasst (wie zum Beispiel die erwähnte Sammlung Man’yōshū). So übernahmen die Japaner auch den ganzheitlichen Bezug zur Poesie und zu ihrer Bedeutung im Leben. Wir bleiben deshalb dem japanischen Verständnis von Poesie durchaus nahe, wenn wir hier einen chinesischen Autor zitieren, der sagt:
Nach meiner persönlichen Auffassung hat die Dichtung in China die Funktion der Religion übernommen, wenn man es für deren Aufgabe ansieht, dass sie die Menschenseele rein hält, ihr ein Gefühl für die Rätsel und Schönheiten der Schöpfung mitteilt und sie zu Freundlichkeit und liebreichem Verhalten gegen die Mitmenschen und alles Schwache und Schutzbedürftige anregt. […] Die Dichtung hat dem chinesischen Volk ein Weltbild nahegebracht, das mit Hilfe von Sprichwörtern und Spruchbändern tief ins öffentliche Leben eindrang, und das aus Mitgefühl, aus überströmender Naturliebe und künstlerisch betontem Lebensgefühl gleichermaßen zusammengesetzt war. Der in diesem Weltbild enthaltene starke Natursinn hat höchst heilsam auf die chinesische Seele gewirkt, und die Aufforderung, sich noch des einfachsten Lebens zu freuen, gab für die Gesamtkultur ein vorzügliches Vorbild ab. In mancher Hinsicht wendet sich das poetische Ideal mit Glück an den romantischen Sinn der Chinesen und hebt sie seelisch über den eintönigen Arbeitsalltag hinaus; in anderer Hinsicht wieder entspricht es ihrer Neigung zu Melancholie, Verzicht und Abgeschlossenheit und tröstet das Herz durch die künstlerische Bewältigung des Grams. Man lernt mit Genuss aufs Geräusch der Regentropfen auf den Bananenblättern horchen, man freut sich an dem Rauch, der von den Hütten aufsteigt und sich mit den Abendwolken vermischt, die über dem Hügel hängen, man schaut liebevoll auf die weißen Lilien am Feldweg, man hört den Kuckuck schlagen und glaubt, dass aus seinem Schrei die Stimme eines Wanderers klingt, der nach seiner Mutter ruft. Man denkt an die Armen und Verlassenen allerorten: an die arme Teeleserin und die Maulbeerpflückerin, an den einsamen Geliebten, an die Mutter, deren Sohn weit weg bei den Soldaten ist, und an die vielen einfachen Leute, deren Leben der Krieg verheert. Vor allem aber lernen die Menschen ein pantheistisches Einssein mit der Natur: sie erwachen und jubeln mit dem Frühling, sie träumen unter der Sommersglut und hören die Zeit schier sichtbar verfliegen, wenn die Zikade zirpt, sie trauern mit dem fallenden Herbstlaub, und wenn es Winter ist, „lesen sie Gedichte in den Schnee geschrieben“. In diesem Sinn kann man wirklich sagen, dass die Poesie die Religion des chinesischen Menschen ist.[5]
Das Tanka ist ein einunddreißigsilbiger Fünfzeiler nach dem Silbenschema 5, 7, 5, 7, 7 und setzt sich hauptsächlich aus zwei Teilen zusammen: dem „oberen“ – siebzehnsilbigen Dreizeiler kami-no-ku (5, 7, 5 Silben) und dem „unteren“ Teil – dem zweizeiligen shimo-no-ku (7, 7 Silben). Beide Teile sind in der Regel durch eine leichte Zäsur getrennt. Der obere Teil hat zumeist eine ansteigende Tendenz und bildet die Einführung, der untere Teil mit fallender Tendenz gleicht häufig einer Resultante und schließt das Thema ab – ähnlich wie der Hexameter im altgriechischen Distichon. Das Tanka ist also immer ein geschlossenes Ganzes, im Unterschied zum Haiku, dessen wesentliches Merkmal seine Offenheit, seine Unendlichkeit ist.
Zu Beginn des 14. Jahrhunderts entwickelten Ästheten und Dichter in höfischen Kreisen das sogenannte „Kettengedicht“ – das Renga. Es entstand, indem die Dichter zuerst einen Anfangsvers (hokku) reimten – einen Dreizeiler mit 5, 7, 5 Silben, danach einen begleitenden Zweizeiler (waki-no-ku) und dann wiederum einen Dreizeiler namens „dritter Vers“ (daisan) und so weiter, bis sie eine Anzahl von 36, 50 oder 100 erreichten; weitere Teile des Gedichts hießen dann nur noch „weiterer Vers“ (heiku) bis hin zum Schlussvers (nagori-no-ku). So verwandelte sich die Poesie in ein Gesellschaftsspiel und verlor allmählich ihren innovativen Anspruch, nutzte sich ab. Spätere Dichter fanden einen Ausweg aus dieser Situation, indem sie den Anfangsvers separierten und eine neue Versform kreierten – das Haiku. Unter dem Einfluss verschiedener Dichterschulen entwickelte es sich in vielfältige Richtungen. Ursprünglich war das Haiku durch seine Entstehung aus einem Gesellschaftsspiel heraus humoristisch geprägt. Auch hatte es keinen feststehenden Namen. Die Bezeichnung hokku drückt die Entstehung des Haiku aus dem Anfangsvers aus, der Begriff haikai wiederum resultiert aus seinem humorvollen Charakter und bezieht sich auf den Inhalt. Aus einer Verschmelzung beider Bezeichnungen entstand der Begriff des Haiku, der Form und Inhalt des Gedichts zum Ausdruck brachte.
Die Blütezeit des Haiku fällt ins 17. Jahrhundert in die berühmte Genroku-Ära (1688–1703), eine Zeit der politischen Stabilisierung Japans unter der Regierung der Tokugawa-Dynastie und der kulturellen Vielfalt, einer neu entfachten Begeisterung für klassische Denkmäler sowie innovativer Tendenzen. In dieser Phase entfalteten sich der Zen-Buddhismus, die Tuschemalerei und entstand die Literatur des „flüchtigen Lebens“ (ukyo-e).
Das klassische Haiku ist besonders stark von der Kunstauffassung des Zen beeinflusst, nach der die Kunst ein Gefühl des Unabgeschlossenen, Unbegrenzten, Unausgesprochenen, Fragmentarischen und Skizzenhaften zum Ausdruck bringen soll. Auch Tuschemalerei und Kalligraphie erlebten damals ihre Hochzeit. Viele der bekanntesten Haiku-Dichter waren Maler, wie beispielsweise Buson (1716–1784), oder Zen-Mönche – wie Bashō. So wie in der Lehre des Zen jeder Gegenstand und jede Erscheinung bloß eine vergängliche Form des einzigen, ewigen Wesens ist, das sich auch in kleinsten Dingen spiegelt, flüchtig, zufällig, veränderlich, so kann auch der Maler mit einigen Pinselstrichen oder der Dichter mit den wenigen Silben eines Dreizeilers einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit abbilden, hinter dem derjenige die unendliche Wirklichkeit erahnen kann, der sich in ein Kunstwerk, ein Gedicht, ein Bild einzufühlen vermag.
Und so hat das klassische Haiku hinter seinem vordergründigen impressionistischen Anschein noch einen anderen Sinn und eine tiefe philosophische Bedeutung. Es soll nämlich zum Nachdenken anregen, zum Einfühlen, zur Harmonie.
Dieses Verständnis des Haiku geht hauptsächlich auf denjenigen zurück, der den Ruhm des Haiku begründet hat – Matsuo Bashō (1643–1694), ein Dichter, der sich für ein Leben als Mönch entschied, um frei durchs Land reisen, studieren und schreiben zu können. Nach der Auffassung seiner Schule kann man über jedes Thema ein Haiku schreiben, doch die strenge Form des Haiku führt zwangsläufig dazu, dass es sich auf den impressionistischen Ausdruck einer flüchtigen Atmosphäre beschränkt und dabei auf einen reichhaltigen Hintergrund literarisch und historisch archetypischer Ausdrücke Bezug nimmt, die der Leser kennen muss, um sie in den nur siebzehn Silben zu erkennen. Besonders gut ist dies an den Haikus des sogenannten „echten Stils“ zu erkennen – Gedichte, die Naturstimmungen ausdrücken und eigentlich eine Analogie zu den Landschaftsmalereien sind. Ihre Thematik ist genau vorgegeben, ebenso wie einige inhaltliche Elemente. Jeder Dreizeiler muss sich auf eine der japanischen Jahreszeiten beziehen: Neujahr, Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Deren charakteristische Eigenheiten, Themen, Begleitumstände müssen entweder ausdrücklich erwähnt oder wenigstens angedeutet werden: Naturerscheinungen, Wetter, Bräuche, Feierlichkeiten, Sprichwörter, Pflanzen, Tiere, Insekten – und das mittels eines sogenannten „Jahreszeitenworts“ auf eine Weise, dass sie im Leser die Stimmung der entsprechenden Jahreszeit hervorrufen.
Wir, die europäischen Leser, sehen im Haiku hauptsächlich seine Verwandtschaft mit unserer Naturlyrik, seine äußere Form: die Beschreibung einer Naturstimmung und ihres Abdrucks in der Psyche des Autors im Sinne der impressionistischen Formulierung: „Die Landschaft ist ein Zustand der Seele.“ Der japanische Autor Toshimitsu Hasumi sagt dazu:
Der Dichter Bashō hat das Haiku zu einer bestimmten Gattung lyrischer Dichtung gemacht, die zum Hintergrund eine fast nur von der Seele heraufzubeschwörende Landschaft hat, was auch das Hauptthema des Gedichts sein möge. Das Haiku ist also die eigentliche japanische seelische Naturdichtung.[6]
Alle Theoretiker des Haiku sind sich einig, dass das Haiku hauptsächlich eine Angelegenheit des Erlebens ist. So meint Kenneth Rexroth:
Sehen wir von den komplexen Faktoren im Hintergrund ab, hat der Mensch beim Lesen dieser Poesie das Gefühl, direkt an einem objektiven Erlebnis beteiligt zu sein. Niemand verlangt von uns, dass wir japanische Gedichte verstehen, wir müssen sie erleben. Dieser Objektivismus ist so rein, dass er die ganze Skala umfasst – wie das Leben selbst, wenn auch unvergleichlich intensiver als alle Erlebnisse, mit Ausnahme der besonders einschneidenden.[7]
Damit wir diese Art des Zugangs zum Werk und zur Wahl der Form nachvollziehen können, muss uns klar werden, welche Bedeutung die Zen-Philosophie für die Entstehung des Haiku hatte. Thomas Hoover führt dazu aus:
Doch während die Griechen danach strebten, in der Vollendung der Form Zeugnis zu geben für die Verwandtschaft des Menschen mit den Göttern, ist der Zen-Künstler sorgsam darauf bedacht, Perfektion zu vermeiden, will er nicht eine Welt idealisieren, deren Existenz ihm fragwürdig erscheint.[8]
Und an anderer Stelle sagt er: „Zen-Kunst erscheint immer spontan und impulsiv, niemals gewollt oder ausgeklügelt […] – der Künstler soll nie den Eindruck vermitteln, seine Kunst, oder gar das Leben selbst, zu ernst zu nehmen.“[9] Und schließlich: „Als die größte Errungenschaft der Zen-Kultur gilt vielen das Haiku.“[10]
Ähnlich urteilt Roland Barthes über die Rolle der Philosophie im Haiku:
Der Haiku dagegen, der mit einer Metaphysik ohne Subjekt und ohne Gott verbunden ist, entspricht dem buddhistischen Mu oder dem Satori des Zen, die nichts mit einer erleuchteten Versenkung in Gott zu tun haben, sondern ein „Erwachen vor der Tatsache“ bedeuten, ein Ergriffensein von der Sache als Ereignis und nicht als Substanz, ein Berühren jenes äußersten Randes der Sprache, der an den (übrigens gänzlich retrospektiven, rekonstruierten) Glanz des Abenteuers grenzt (was der Sprache eher geschieht als dem Subjekt).[11]
Damit kommen wir zu einem anderen Wesenszug des Zen (Tao), nämlich der Frage, ob es sich in Worte fassen lässt. Denn Lao Tse sagt in den ersten Sätzen des Tao te king: „Der Sinn, der sich aussprechen lässt, ist nicht der ewige Sinn.“ Toshimitsu Hasumi dazu:
Der Ursprung des Universums ist unbenennbar. Das Benannte ist dem Ursprung immer irgendwie entfremdet. Aber die Erscheinung braucht irgendeinen Namen, der den Prinzipien des Kosmos widerspricht. Deshalb, wenn wir im ewigen NICHTS die eigene Realität wahrnehmen, werden wir immer bescheidener und nähern uns der Wahrheit. Wie schön sind die namenlosen Blumen, die bescheiden in einer Ecke der Wiese blühen. Der Name, der ausgesprochen wird, ist kein ewiger Ausdruck, weil sich der Name immer mit der Natur verwandelt.[12]
Also ein ganz anderer Zugang als unser biblisches: „Am Anfang war das Wort.“
Es scheint mir, dass [Edmund] Husserl in seiner phänomenologischen Beschreibung einen ähnlichen Zugang verfolgt, wenn er schreibt:
Das Wahrgenommene in seiner Erscheinungsweise ist, was es ist in jedem Momente des Wahrnehmens, als ein System von Verweisen, mit einem Erscheinungskern, an dem sie gewissermaßen ihren Anhalt haben, und in diesen Verweisen ruft es uns gewissermaßen zu: Es gibt hier noch mehr zu sehen […].[13]
Und am prägnantesten: „Dem schauenden Auge das Wort lassen.“[14] Ebenso äußert sich der Verfasser zahlreicher Haikus Allen Ginsberg in seinem Tagebuch:
Haiku = objektive Bilder niedergeschrieben außerhalb des Geistes, das Resultat, der Geist empfindet unausweichlich Beziehungen. Niemals versuchen, von den Beziehungen selbst zu schreiben, nur die Bilder sie sind alles, was darüber geschrieben werden kann.[15]
Ähnlich auch Thomas Hoover: „[…] denn die Inspiration zu einem Haiku muss echt sein und in dem Augenblick, wo sie da ist, ihre eigenen Worte finden.“[16]
Ein großer Kenner der japanischen Kultur und damit auch der Poesie des Haiku war Sergej Eisenstein. Er sagt darüber: „Ein Haiku ist das Konzentrat einer impressionistischen Skizze.“ Und erklärt auch die Technik des Haiku als Montage: „In unseren Augen sind das Motivfolgen der Montage. Einstellungsfolgen. Die schlichte Vereinigung von zwei oder drei Details der Wirklichkeit zeitigt eine vollständig ausgeführte Darstellung anderer – nämlich psychologischer – Wirklichkeit.“[17]
Allen Ginsberg stellt sogar eine Verwandtschaft zu westlichen Auffassungen her: „Das Bild im Westen (Metapher als die Herstellung einer Beziehung zwischen unterschiedlichen Dingen – Aristoteles) ist komprimiertes Haiku.“[18]
Diese Form einer wunderbar komprimierten Darstellung eines Augenblicks faszinierte die europäischen Dichter schon bald, nachdem sie unsere Ufer erreichte. Genauso fühlten sich die Dichter auch von der Philosophie des japanischen Schaffens angezogen. Kenner des Werkes von Johann Wolfgang [von] Goethe belegen an Beispielen seiner Gelegenheitsdichtung charakteristische Züge der japanischen Lyrikformen Haiku und Tanka.
Die ersten Haiku-Übersetzungen tauchten jedoch erst am Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland, England und Frankreich auf. Um das Jahr 1900 entdeckten die europäischen Künstler die japanische Kunst, nicht nur bildende Künstler waren von ihr fasziniert ([Paul] Gauguin, [Vincent] van Gogh und andere), insbesondere in Frankreich ließen sich auch Dichter von der Form des Haiku inspirieren. Romain Rolland machte auf sie aufmerksam, Paul Claudel ahmte sie auf seiner Reise durch Japan nach.
In den Jahren 1912–1920 übernahm der Amerikaner Ezra Pound Anregungen aus dem Haiku für seinen dichterischen Imagismus. Anklänge an das Haiku sind auch in seinem berühmten Werk Die Cantos zu finden.
Der englische Dichter W. H. Auden schrieb eine Reihe von Dreizeilern, die vom Haiku inspiriert waren. Auch Guiseppe Ungaretti verfasste kurze Gedichte dieses Typs. Im Original haben sie keine siebzehnsilbige Struktur:
Da una finestra trapelando, luce
Il fastigio dellálbero segnala
Privo die folgie.
Aber in ihrer deutschen Übersetzung entdeckte ich ein vollendetes Haiku.
Durchs Fenster sickernd,
lässt Licht Gipfel des Baums
blattlos aufblinken.[19]
In Spanien schrieb der Dichter Joan Ramón Jimenez Haikus. Da ich diese Zeilen an einem Herbsttag schreibe, zitiere ich einen Dreizeiler von ihm, der einem Haiku des „echten Stils“ in nichts nachsteht.
Todo el otono, rosa,
es esa sola hoja tuya
que sae.
Rose, der ganze Herbst,
ist in deinem Blütenblatt,
das abfällt.
Allen Ginsberg habe ich bereits erwähnt. Wie seine Freunde aus der Beat-Generation schrieb auch er zahlreiche Haikus.
In diesen Tagen hat der mexikanische Dichter Octavio Paz den Nobelpreis für Literatur erhalten. Auch er wurde während seiner Reisen durch den Orient von Haikus beeinflusst.[20] Er schrieb nicht nur selbst welche, sondern ist auch Übersetzer des bekannten Haibun Oku no hosomichi von Matsuo Bashō. Der tschechische Leser kennt dieses Reisetagebuch, das viele Haikus enthält, unter dem Titel Auf schmalen Pfaden ins Hinterland.[21]
Ich könnte noch Dutzende weitere Namen nennen, aber möchte zumindest jene Autoren erwähnen, die in Prag gewesen sind. Anklänge des Haiku findet man im Werk von Rainer Maria Rilke. Die österreichische Schriftstellerin Imma von Bodmersdorf veröffentlichte eine Haiku-Sammlung. Als Tochter des deutschen Professors Christian von Ehrenfels, der an der deutschen Universität lehrte, lebte sie in ihrer Jugend in Prag. Und abschließend muss ich auch den bedeutenden Übersetzer japanischer Poesie ins Deutsche erwähnen, Gerolf Coudenhove, der aus dem tschechischen Adel stammt und sich zum Tschechischen als seiner zweiten Muttersprache bekannte.
Zwei unserer Haiku-Übersetzer habe ich bereits erwähnt, Alfons Breska und Jan Vladislav. Breska übersetzte eine Auswahl der besten japanischen Haiku-Meister. Im Unterschied zu seinen Zeitgenossen in Europa, die das Haiku frei übersetzten, ohne Rücksicht auf die Silbenanzahl, hielt Breska die Regeln des Haiku und auch das Schema von 5, 7, 5 Silben ein. Jan Vladislav übersetzte in dem Sinne freier, so dass er die Silbenanzahl zwar beibehielt, aber die Versanzahl manchmal bis auf fünf erhöhte. Das war innovativ für die Übersetzung des Haiku und ist in Übersetzungen anderer Literaturen nicht zu finden. Er benutzte den Paarreim so, dass sich entweder Anfang- und Endvers reimten oder aber der zweite mit dem letzten Vers. Vladislav versuchte damit, einem Problem gerecht zu werden, mit dem sich Toshimitsu Hasumi in seinen Ausführungen beschäftigte, als er auf die musikalische Seite des Haiku verwies. Auch Gerolf Coudenhove widmete sich im Zusammenhang mit den Problemen der Übersetzung japanischer Poesie in europäische Sprachen der Frage, in welchem Maße sich die musikalische Seite der japanischen Verse mit Hilfe von Betonung und Versmaß in germanische, romanische und slawische Sprachen übertragen lasse. Jan Vladislav hat sich um die Übersetzung des Haiku durch seine Entdeckung des Reims als gleichwertigem Ersatz für die japanische Musikalität verdient gemacht.
Mich selbst hat er damit auf eine weitere Möglichkeit gebracht, die Musikalität des Reims zu nutzen, und zwar mittels Assonanz und Onomatopoesie. Er inspirierte mich zu dem Versuch, Reime oder Assonanzen in Zweierpaaren zu finden und erleichterte mir auch die Entscheidung, den mittleren siebensilbigen Vers zu teilen und daraus mit Hilfe eines inneren Reims zwei Zeilen zu machen. Dennoch muss ich bekennen, dass es zehn Jahre gedauert hat, bis ich eine passende Lösung gefunden hatte.
Einem anderen tschechischen Übersetzer, Mirko Novák, der ebenfalls Haikus als siebzehnsilbige Dreizeiler übersetzte, verdanke ich die Entdeckung des Haibun schon zu Beginn der 1960er Jahre.
Als ich in den Westen kam, eröffneten sich mir reichhaltigere Quellen, um mich mit dem Haiku auseinanderzusetzen. Ich lernte eine Reihe deutscher Autoren kennen und hatte vor allem die Möglichkeit, nicht nur die Problematik des Haiku zu studieren, sondern auch seinen ganzen Hintergrund, die Zen-Philosophie, die Zen-Ästhetik, ihre Rolle in der japanischen Kultur und im globalen Kontext der gegenwärtigen Zivilisation.
Im Westen widmen nicht nur Kulturinteressierte ihre Aufmerksamkeit der japanischen Kultur, sondern auch Unternehmer, Manager, Banker oder Politiker. Es ist sicherlich kein Zufall, dass zum Beispiel der ehemalige Sekretär der Vereinten Nationen, Dag Hammerskjöld, ein Kenner der japanischen Philosophie und Autor zahlreicher Haikus war. Es ist keine Seltenheit, dass sich Manager von multinationalen Konzernen zu Meditationskursen treffen und Haikus schreiben lernen oder die Zen-Kunst des Bogenschießens.
Ich habe bereits Thomas Hoover zitiert, der sagte, dass das Haiku die größte Errungenschaft der Zen-Kultur sei. Und wenn ich das Interesse bedenke, dass die Leser im Westen dem Haiku entgegenbringen, nehme ich an, dass auch der tschechische Leser, der es vermag, in wenigen Stunden eine Auflage von mehreren Tausend Exemplaren tschechischer Autoren aufzukaufen, an der gedanklichen Tiefe der Poesie des Haiku seine Freude hätte. Vielleicht würde er feststellen, wie ähnlich sie den Vierzeilern Jan Skácels sind, in denen die Natur und ihre Veränderungen, gespiegelt im Bewusstsein des Wanderers durch die mährische Landschaft, ebenfalls eine bedeutende Rolle spielen. Er würde dieselbe Liebe zu allem Lebendigen und Mitgefühl für die Menschen auch bei dem Dichter Issy finden (Kobayashi Yataro, 1763–1827), einem Autor, der 20.000 Haikus und zwölf Tagebücher verfasste, und begreifen, dass ihm die Poesie des Haiku umso näher ist, je bewusster er sich der Bedrohung der Natur in unserer heutigen Welt der ökologischen Katastrophen ist.
Wer weiß, ob nicht für die Menschheit eine Zeit anbricht, in der man von der Schönheit der Natur nur mehr aus Aufzeichnungen wissen wird. Dann wäre das Haiku eines der wertvollsten Dokumente. Lieber möchte ich aber glauben, dass die Menschheit rechtzeitig erwacht und dass das gelten wird, was der japanische Dichter Ki no Tsurayuki im Jahr 905 in seinem Vorwort zur Sammlung Kokinwakashū geschrieben hat: „Endlos wie die herabhängenden Äste der Weide; ohne abzufallen wie die Nadeln der Kiefer; lang wie die Ranken des Spindelstrauches; so werden die Lieder der Nachwelt überliefert und lange bleiben wie die Spuren der Vögel.“[22]
Als ich diesen Essay über das Haiku schrieb, kam mein chinesisches Hündchen zu mir ins Arbeitszimmer, um mir mitzuteilen, dass es dringend hinaus muss. Da es regnete, nahm ich den Schirm und wir gingen zu unserem kleinen Teich zwischen den Vorstadthäuschen. Der Regen zog kleine Kreise auf der Wasseroberfläche, auf der zwischen Blättern Enten schwammen. Es dämmerte, die Straßenlaternen gingen an. Ein gelber Schein reichte bis in die Kronen der Eichen und vermehrte auf den nassen Flächen der Blätter den goldenen Glanz der üppigen Krone. Gelegentlich plumpste eine Eichel ins Wasser. Der Wind riss die Wolken auseinander und erleuchtete den aquamarinblauen Himmel. Aber nur für einen Moment. Der Himmel zog sich zu und wurde grau-blau. Bald haben wir Vollmond, und in diesen Tagen pflege ich ein Haiku über den Mond zu schreiben. Es ist eine Pflicht für den Haiku-Dichter, im Herbst ein Gedicht über den Vollmond zu schreiben. Als besonders wertvoll gilt dabei (seit Bashōs sehr bekanntem Gedicht über den Neumond, der nicht zu sehen ist) ein Haiku, das den unsichtbaren Mond anspricht. Und so schreibe ich:
Mond, du mein Bruder,
kann dich nicht seh’n!
Bist bedeckt.
Im Laub klopft Regen…
Es ist leicht, solche Haikus zu schreiben, wenn man das seit dreißig Jahren übt. Doch viel wichtiger ist es, die Sprache der Natur hören und Bilder sehen zu lernen, die von allein die gesuchten Worte hervorbringen. Das Haiku dichtet sich selbst durch unsere Vermittlung.
Und in diesem Moment fühlen wir Satori, wir sind ein Teil der ewigen Natur, mehr noch, wir sind sie selbst. Ich stand unter der tropfenden Eiche, strich über das feuchte Fell meines Hündchens und fühlte, wie in mir Verse entstehen.
Wie der Herbstregen
hämmert im Laub,
nimmt dein Herz
die Nachtstille auf
Hamburg, 31. Oktober 1990
Neuübersetzt von Rainette Lange
Original in: Karel Trinkewitz: Prag in siebzehn Silben/Praha v sedmnácti slabikách. Baden-Baden 1994, Nachwort.
[1] Barthes, Roland: Das Reich der Zeichen. Frankfurt am Main 1981, S. 94.
[2] Breska, Alfons: Mléčná dráha. Antologie japonských básníků haiku 17. a 18. století [Milchstraße. Anthologie japanischer Haiku-Gedichte des 17. und 18. Jahrhunderts]. Praha 1937.
[3] Mathesius, Bohumil: Verše psané na vodu [Verse auf Wasser geschrieben]. Praha 1943.
[4] Bašó: Měsíce, květy. Výbor z básní haiku [Mond, Blüten. Auswahl aus Haiku-Gedichten. Übersetzt v. Jan Vladislav u. Miroslav Novák]. Praha 1962.
[5] Lin Yutang: Mein Land und mein Volk. Stuttgart-Berlin 1936. Übersetzt v. Wilhelm E. Süskind. Stuttgart-Berlin 1936, S. 299–300.
[6] Hasumi, Toshimitsu: Zen in der Kunst des Dichtens. Bern-München-Wien 1986, S. 25.
[7] Übersetzung aus dem Trinkewitz-Manuskript; Quelle nicht verifizierbar.
[8] Hoover, Thomas: Die Kultur des Zen. Köln 1983, S. 19.
[9] Ebd., S. 21.
[10] Ebd., S. 214.
[11] Barthes: Das Reich der Zeichen, S. 108.
[12] Übersetzung aus dem Trinkewitz-Manuskript; Quelle nicht verifizierbar.
[13] Husserl, Edmund: Vorlesung im Wintersemester 1925–26. In: Husserl. Ausgewählt und vorgestellt v. Uwe C. Steiner. München 1997, S. 257–282, hier 259.
[14] Ebd.
[15] Ginsberg, Allen: Notizbücher 1952–1962. Hg. v. Gordon Ball. Darmstadt 1977, S. 140.
[16] Hoover: Die Kultur des Zen, S. 221.
[17] Eisenstein, Serge[j]: Hinter der Leinwand [1929]. In: Nô – vom Genius Japans. Hg. v. Eva Hesse. Zürich 1963, S. 264–282, hier 267–268.
[18] Ginsberg: Notizbücher, S. 140.
[19] Ungaretti, Guiseppe: Die späten Gedichte. Übersetzt v. Michael Marschall von Bieberstein. München 1974.
[20] Trinkewitz verwendet im Original „Orient“ für die Reisen von Paz nach Japan und Indien.
[21] Bašó: Pouť do vnitrozemi [Auf schmalen Pfaden ins Hinterland]. Übersetzt v. Miroslav Novák. Praha 1959.
[22] Klassisches Japanisch IV: Kokin-waka-shū. Alte und neue japanische Lieder. Eine Auswahl. Übersetzt v. Horst Arnold-Kanamori. Hamburg 2002, S. 42.