Meine kurze Autobiographie

Karel Trinkewitz

Alle Menschen haben einen kurzen Lebenslauf.
Karel Trinkewitz, Der Hackermann aus Böhmen
(Aphorismensammlung)

Ich wurde 1931 in Böhmen geboren. Mein Großvater kam nach Böhmen aus Braunsberg in Ostpreußen. Meine Großmutter war Jüdin und stammte aus derselben Gemeinde in der Nähe von Prag, wie Franz Kafkas Mutter. Meine Mutter stammt aus Mähren. Ich besuchte drei Klassen der tschechischen Volksschule und wechselte nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch Hitler zur deutschen Volksschule. Weiter studieren durfte ich als Jude nicht. Nach 1946 ging ich wieder in die tschechische Schule. Wieder durfte ich nicht studieren, erst 1951 kam ich aufs Gymnasium in Teplitz-Schönau. Später, während der antisemitischen Stalinprozesse, musste ich die Karlsuniversität verlassen. Von dieser Zeit an wurde ich in allem Autodidakt.

Prag habe ich als Dreijähriger kennengelernt, später habe ich dort, mit zehn Jahren, die Ferien verbracht. Ich war von der Stadt fasziniert und wollte dort leben. Das gelang mir, als ich an die Universität kam. Ich las schon als Gymnasiast Franz Kafka, E. E. Kisch, Gustav Meyrink und andere deutsche Autoren. Aber vor allem die ganze tschechische Literatur. Über das Ausland konnte ich nur träumen. Auch die Informationen waren damals spärlich. Die einzige Quelle meiner Informationen waren die Antiquariate Prags.

Von der Universität gefeuert, musste ich zum Militär und schlug mich dann in verschiedenen Berufen durch. Erst der Prager „Vorfrühling“ milderte die antideutsche und antisemitische Kaderpolitik – ich wurde Redakteur einer deutschen Zeitschrift in Prag. Meine Vorgesetzten in der Redaktion waren deutsche Juden – gebildete Kenner der Prager deutschen Literatur. In der redaktionellen Arbeit lernte ich viele deutsche Prager Autoren kennen und durch sie auch die Geschichte der Prager Literaturszene. Und auch die deutsche Literatur allgemein. Aber gleichzeitig war ich der tschechischen Kultur sehr verbunden, schätzte ihre Klassiker und schrieb meine Arbeiten in Tschechisch. Ich halte mich auch jetzt für einen tschechischen Schriftsteller, da ich zu lange im Universum der tschechischen Sprache gelebt und meine semantischen Konnotationen gesammelt habe. 1979, wieder in Zusammenhang mit einem Prozess (Václav Havel und Freunde) wurde ich ausgebürgert und konnte in die Bundesrepublik auswandern. Jetzt wurde ich zum ersten Mal ein vollwertiger Bürger – heimgekehrt in das sprachliche Vaterland meiner Vorfahren.

Ich lebe aber auch jetzt zum Teil im Prager geistigen Milieu, da inzwischen viele meiner Prager Freunde ausgebürgert wurden oder ihre Bücher nur im Westen veröffentlichen: Pavel Kohout, Jiří Gruša, Václav Havel, Ludvik Vaculík, Jiří Kolář, Jan Vladislav sind einige von ihnen. Meine journalistische und schriftstellerische Arbeit ist der tschechischen Exilpresse verpflichtet.

Meine Liebe zu Prag äußert sich auch jetzt in meinen Büchern: in dem mit Zeichnungen illustrierten Haiku-Band und dem Collage-Roman „1472 Schritte“, einer mehrschichtigen Geschichte der Straßen zwischen dem Pulverturm und dem Café Slavia am Moldauufer.

Meine Erinnerung an Prag ist in einem Haiku aus dem Jahr 1968 zusammengefaßt:

Nachts blühen Linden
im Regen
Prag geht blind den
Schrecken entgegen …

Hamburg, im Sommer 1985
Karel Trinkewitz



Karel Trinkewitz (1999)
Archiv Forschungsstelle Osteuropa Bremen.
Nachlass Trinkewitz.
FSO 2–060.